Netzwerk Territorialisierungen der radikalen Rechten

Interview mit der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland (BOrG) und dem Aktionsbündnis Brandenburg

Im Mai 2022 sprachen wir mit Tom Kurz von der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland (BOrG) und mit Stefan Tenner vom Aktionsbündnis Brandenburg.

Sind der radikalen Rechten in den letzten 5 Jahren in Ostbrandenburg Raumnahmen gelungen und wenn ja, wo und wie?

Tom Kurz: „Wenn wir über die extreme Rechte in Ostbrandenburg sprechen, kommen wir auch um die AfD nicht drum rum. Die AfD ist nicht nur autoritär nationalistisch, der Brandenburger Landesverband wird seit 2020 auch als rechtsextremer Verdachtsfall vom Verfassungsschutz beobachtet. Die AfD ist bei den Kreistagswahlen 2019 in Märkisch-Oderland stärkste Kraft geworden, sitzt also mit 10 Abgeordneten im Kreistag. Sie ist in sämtlichen kommunalen Gremien und Stadtverordnetenversammlungen vertreten und hat auch bei den anderen Wahlen (Landtag und Bundestag) vielen Stimmen  erhalten. Die AfD ist der dominante rechte Akteur in der Gegend. Gerade in Müncheberg und Wriezen gibt es starke Ortsverbände, die sich den öffentlichen Raum aneignen. In Wriezen veranstaltet die AfD bspw. seit Dezember 2020 jeden Mittwoch eine Kundgebung auf dem Marktplatz. Bisher gab es nur einmal antifaschistischen Gegenprotest. Bei den AfD-Veranstaltungen treten hochrangige Parteifunktionär:innen wie Andreas Kalbitz oder Hannes Gnauck auf. Ein weiterer nicht zu unterschätzender Ort rechter Mobilisierung ist Hönow. Direkt am Berliner Stadtrand nutzt die AfD ein Restaurant als Treffpunkt und Veranstaltungsort. Somit kommt dem Ort auch eine Schlüsselrolle der Berliner AfD zu, die in Berlin kaum noch Veranstaltungsorte findet. Die AfD sucht und vollzieht zudem wiederholt den Schulterschluss mit Neonazis und Personen aus dem Kameradschaftsspektrum. Angefangen hat dies im Laufe der rassistischen Mobilisierungen 2015/16. Neben der AfD bzw. deren späteren Hauptakteuren haben diese Mobilisierungen dazu geführt, dass viele Neonazis wieder politisch aktiv wurden. In Strausberg hat das zum Aufleben der alten Kameradschaftsstrukturen geführt.

Außerdem kommen mittlerweile die Kinder der (Neo)Nazis aus den 90er-Jahren in ein Alter, in dem sie anfangen sich politisch zu engagieren bzw. Straf- und Gewalttaten verüben. Viele sind vom Elternhaus ideologisch gefestigt. Am besten zeigt dies eine Gruppe von Jugendlichen, die Ende 2020 unter dem Namen „Division MOL“ (MOL=Märkisch-Oderland) in der S5-Region[1] aufgetaucht ist (https://inforiot.de/aktive-neonazi-jugendgruppe-division-mol/). Mittlerweile ist bekannt, dass alle der Hauptakteure aus Neonazi-Elternhäusern kommen und dort auch geschult worden sind – in vielerlei Hinsicht. Die Kinder haben die Ideologie von ihren Eltern eingedrillt bekommen, haben aber auch von den Kontakten in den bestehende Naziszene profitiert. Selten kamen junge Nazis so schnell mit Führungsstrukturen von JN und dem III. Weg in Kontakt wie es der Fall bei der Division MOL war. Auch ist belegt, dass Kampfsporttrainings durch die älteren Nazis für die jüngeren bzw. ihre Kinder organisiert wurden (https://inforiot.de/division-mol-gewalttaetige-nazis-aus-rechten-elternhaeusern/). Die „Division MOL“ ist mittlerweile in Berliner Strukturen des III. Weg aufgegangen. Allgemein ist der III. Weg zunehmend präsenter in vielen Regionen Brandenburgs. Die Standorte in Berlin und der Uckermark oder deren jüngsten Aufrufe zu Demonstrationen im Nordosten Brandenburgs während der Corona-Demos sollen in die umliegenden Regionen hineinwirken. In Märkisch-Oderland gab es über Jahre wenig Präsenz von neonazistischen Kleinstparteien. Die NPD war und ist in einem desolaten Zustand und tauchte nur vereinzelt auf. Doch der III. Weg füllt nun diese Lücke und betreibt dazu intensive Nachwuchsarbeit. Dazu kommt neuerdings eine zunehmende Zusammenarbeit zwischen der NR Jugend (Nationalrevolutionäre Jugend), der Jugendorganisation des III. Weg und der JN (Junge Nationalisten), der Jugendorganisation der NPD (obwohl mittlerweile fast losgelöst von der NPD). Das hat im letzten Jahr zu erhöhter Präsenz beider Strukturen in der Region geführt. Besonders aufgefallen ist der III. Weg durch eine Grenzschutzaktionen in Guben 2021 an der deutsch-polnischen Grenze nach dem Vorbild der österreichischen Identitären , um damit die Abwehr von Geflüchteten medienwirksam zu inszenieren.

Hinzu kommen feste rechte Infrastrukturen, die über Jahre und Jahrzehnte gewachsen sind, wie ein Rechtsrock-Label mit zugehöriger Druckerei („Exzess-Records“), Treffpunkte und Betriebe. Diese sind vor allem privat getragen, weshalb sie weitestgehend fernab der öffentlichen Wahrnehmung genutzt werden. Die Szene hat sich stabilisiert und ist damit unabhängig. Die Infrastrukturen können bei Bedarf genutzt werden, wirken aber eher nach innen als nach außen.“

Stefan Tenner: „Auch die Corona-Proteste der letzten Jahre können als rechte Raumnahme gesehen werden. Wenn man sich die räumliche Verteilung, die Teilnehmendenzahl und Frequenz anschaut, dann fanden 2021 und Anfang 2022 die größten rechten Aufmärsche statt, die es je in Brandenburg gegeben hat. Damit wurden auch die Dimensionen der Proteste gegen Geflüchtete 2015/16  übertroffen. (https://aktionsbuendnis-brandenburg.de/corona-und-rechtsextreme-mobilisierung-in-brandenburg/) Neben der AfD waren auch immer wieder Neonazis aus dem Kameradschaftsspektrum bei diesen Protesten anzutreffen, welche zur Verbreitung (rechter) Verschwörungserzählungen und rechter Literatur, z.B. das Compact-Magazin, genutzt wurden.

Einige Fragezeichen gibt es im Bereich der völkischen Siedler*innen. Hier haben wir nur wenige neue Erkenntnisse über die Entwicklungen. Auch ist der Oderbruch ohnehin eine Region, in der man nur wenig über rechte Aktivitäten erfährt.

In Frankfurt (Oder) gibt es die ‚Bruderschaft Wolfsschar‘, die als kameradschaftsähnliche Struktur mit Verbindungen zu Motorradgangs seit 2021 existiert. Sie organisierte Aufmärsche und versucht an andere rechte Protestbewegungen anzuknüpfen. Ihre Mitglieder fallen besonders durch ihre einheitlich Kleidung im Stil US-amerikanischer Motoradgangs auf. Mehr Infos gibt es zu dieser ‚Bruderschaft‘ auf der Webseite des Aktionsbündnis . (https://aktionsbuendnis-brandenburg.de/bruderschaft-wolfsschar/).

Zusammengefasst finden sich diese Erkenntnisse in den Monitoring-Berichten der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt Märkisch-Oderland zum Beispiel für 2020 und 2021.“

Welche Rolle spielen die „Baseballschlägerjahre“ für aktuelle räumliche Strategien und Muster rechter Dominanz und Gewalt?

Stefan Tenner: „Die 1990er Jahre sind die Referenz für eine rechtsextreme Raumnahme, die bis in den ländlichen Raum in der Peripherie reichte. Viele der Neonaziaktivitäten wurden zwischenzeitlich eingehegt, aber jede Zeit fordert uns neu heraus. Die Baseballschlägerjahre waren rechte Hegemonie durch offene Gewalt und räumliche Dominanz; heute gibt es zwar weniger rohe Gewalt. Doch es gibt Kontinuitäten. Bei Angriffen von rechts dominieren aktuell weiterhin Körperverletzung und Gefährliche Körperverletzung als Tatbestände, die etwa zwei Drittel ausmachen. Rassismus ist dabei mit Abstand von ebenfalls zwei Dritteln dominierend beim Tatmotiv. (https://www.opferperspektive.de/rechte-angriffe/statistik-brandenburg/statistik-rechter-gewalt-2)“

Tom Kurz: „Die Baseballschlägerjahre sind auf jeden Fall eine Erfahrung, die immer wieder reaktiviert werden kann. Rechte der ersten Generation nach der Wende, wurden mit den Erfahrungen sozialisiert und geben die Erzählungen weiter. Es geht dabei um die Erfahrungen von Dominanz durch Gewalt, die weitestgehende Ohnmacht von Staat und Zivilgesellschaft. Die Strategien funktionieren aber nicht mehr schablonenhaft, da mehr Gegenwind vonseiten des Staats und Zivilgesellschaft weht. So entwickeln sich immer neue Vorgehensweisen der Rechten, die wiederum auch ständig neue Antworten benötigen.“

Was kann die Aufarbeitung dieser Periode bewirken, wo liegen Fallstricke und Grenzen?

Stefan Tenner: „Die fehlende juristische Auseinandersetzung damals war ein Problem und auch die Anerkennung der Todesopfer ist weiterhin nicht abgeschlossen. Wichtig ist es, die Erinnerung aufrecht zu erhalten und Zeitzeug:innen und Betroffene zu Wort kommen zu lassen (z.B. in der Podcast-Reihe: https://aktionsbuendnis-brandenburg.de/30jahre/). Neue Erinnerungskultur ist möglich, z.B. sind Erinnerungsinitiativen zu den Angriffen auf das Asylbewerber:innenheim in Cottbus Sachsendorf 1992 (https://www.opferperspektive.de/aktuelles/va-initiative-cottbus-92), den tödlichen Angriff auf Phan Văn Toàn in Fredersdorf (https://phanvantoan.de) oder auf Emil Wendland in Neuruppin (https://www.facebook.com/Gedenkinitiative-Emil-Wendland-111016981496334) entstanden. Zusammenfassende Informationen zu den Todesopfern rechter Gewalt in Brandenburg hat der Verein Opferperspektive online und in einer Wanderausstellung veröffentlicht  (https://todesopfer-rechter-gewalt-in-brandenburg.de/home/).“

Wenn man von einer Periode der „Post-Baseballschlägerjahre“ sprechen möchte: Was macht diese in der Region aus?

Tom Kurz: „Die zweite Generation ist jetzt aktiv, z.B. war Andrew Ron Stelter in den 90ern bis heute vor allem bei der NPD aktiv (https://antifa-berlin.info/recherche/1297-andrew-stelter—der-nazi-handwerker-in-deiner-wohnung). Sein Sohn Malwig Stelter wurde nun in seiner Jugend Teil der Division MOL, wie sicher auch andere dieser Generation, die auf der Suche nach eigenen Gewalterfahrungen sind. Auch die Anzahl der Angriffe ist weiter sehr hoch, allerdings sind gerade solche Angriffe seltener geworden, die entweder mit größter Brutalität oder gut geplant durchgeführt werden. 2021 ist die Anzahl rechter Gewalttaten im Vergleich zum Vorjahr in Brandenburg erstmals seit 2018 wieder angestiegen (https://www.opferperspektive.de/rechte-angriffe/statistik-brandenburg/statistik-rechter-gewalt-2). Heute sitzen die Neonazis auch in den Parlamenten und greifen auf diese Weise die Zivilgesellschaft regelmäßig an (https://aktionsbuendnis-brandenburg.de/wir-lassen-uns-nicht-hetzen/).“

Was sind gesellschaftliche Strukturen und Rahmenbedingungen, durch die das Agieren der radikalen Rechten vor Ort erklärt werden kann bzw. befördert wird? Inwiefern haben sich die Rahmenbedingungen durch die Pandemie geändert?

Tom Kurz: „Es gibt eine große Flucht von Jugendlichen und politisch linken Menschen in die Großstädte. Es ziehen einfach immer wieder Menschen weg und im Zweifel bleiben die Rechten. Bad Freienwalde ist ein Paradebeispiel dafür, dass nach dem Angriff auf den alternativen Jugendclub 2008, viele politisch Aktiven den Kampf gegen Rechts in Bad Freienwalde aufgaben. Dazu kommt, dass es keine flächendeckende Zivilgesellschaft gibt, vor allem keine, die fest in den ländlichen Strukturen eingewachsen ist. Die Nazis profitieren zu der Nähe von Berlin und stehen mit Berliner Strukturen in Kontakt. Zudem führen fehlende Infrastrukturen, Versorgung und Kultur zum Aussterben der Region und befördern das Erstarken der Rechten. Protestwählertum ist das falsche Wort, aber der Frust einiger Teile der Bevölkerung zeigt sich auch bei Wahlen und der Akzeptanz von Neonazis. Die Leere in der Fläche schafft gleichzeitig Räume, in denen sich Nazis ungestört bewegen und vernetzten können. Sei es ein Grundstück mit Konzerten, Wanderungen, Proberäume oder auch Gelände für Firmen. So hat sich im Landkreis Märkisch-Oderland eine Szene entwickelt, die nach innen ihren NS-Lifestyle lebt, zum Teil isoliert agiert und somit kaum bemerkt wird.

Hier muss ergänzt werden, dass die Neonazis aus dem Kameradschaftsspektrum in den letzten Jahren eher auf Züge aufgesprungen sind, als diese aktiv in Fahrt zu bringen, etwa bei den rassistischen Mobilisierungen 2015/16 oder den Corona-Protesten. Lokale Nazis haben sich jeweils schnell eingemischt und zum Teil auch eine führende Rolle übernommen, jedoch ging die Initiative immer von externen Akteur:innen aus, beispielweise JN, III. Weg und der AfD.“ (https://aktionsbuendnis-brandenburg.de/corona-und-rechtsextreme-mobilisierung-in-brandenburg/)

Allgemein schaffte die Corona-Pandemie neue Aktionsräume, ein neues Thema und eine breite Akzeptanz für Nazis, Verschwörungserzählungen und demokratiefeindliche Positionen. Wenn alles verboten ist und nur die Nazis was machen, dann gehen da auch automatisch mehr Menschen hin. Zugleich stieg die Pressefeindlichkeit enorm. Journalist:innen hatten/haben Angst davor von solchen Protesten zu berichten, schaffen aber gleichzeitig durch die Skandalisierung der Angriffe auf sie ein größeres Medieninteresse, wodurch auch tendenziell die große Beteiligung radikal Rechter Akteure an den Protesten sichtbar und kritisiert wird.

Sicher spielt auch die politische Landschaft und die rassistische Politik des Landkreises eine Rolle.

Seit den letzten Kommunalwahlen ist die AfD überall stark vertreten und springt schnell und gerne auf jede Protestwelle auf. So kann es wirken, als seien sie die einzigen, die vor Ort aktiv sind. Der Landkreis gehört zu den letzten, die Geflüchteten die elektronische Gesundheitskarte und die Überweisung der Sozialhilfen direkt auf das Konto verweigern. Diese rassistische Politik ist so fest im Landkreis und seinen Verwaltungsstrukturen verankert, dass die Rassist*innen leichtes Spiel haben.“

Stefan Tenner: „Allerdings muss auch erwähnt werden, dass in den letzten Jahrzehnten punktuell antifaschistischer Widerstand geleistet wurde und auch breite Gegenproteste von der Zivilgesellschaft organisiert wurden, etwa in Halbe oder Neuruppin. Flächendeckend und dauerhaft gelang die antifaschistische Gegenwehr allerdings nie. Gerade in rechten Schwerpunktregionen wie Cottbus konnten dadurch extrem rechte Netzwerke wie ‚Zukunft Heimat‘ (https://www.aktionsbuendnis-brandenburg.de/wp-content/uploads/2021/05/Zukunft_Heimat_2_Auflage.pdf) über die letzten Jahrzehnte wachsen. Die Neonaziszene möchte sich auch ökonomisch etablieren, teilweise durch Verbindungen zur organisierten Kriminalität.

Der Einzug der AfD in die Parlamente führte darüber hinaus zu einer weiteren Etablierung und Verfestigung rechter Strukturen in Brandenburg.“

Welche Rolle spielt die lokale Politik und Zivilgesellschaft sowohl für die Beförderung, als auch die Eindämmung, der radikalen Rechten in der Region? Wo liegen die zentralen Herausforderungen?

Tom Kurz: „Die lokale Zivilgesellschaft ist elementar für die Eindämmung, Thematisierung und Gegenmobilisierung von radikal rechten Akteuren. Die lokalen Aktionspläne und Koordinierungsstellen für Demokratie im Land Brandenburg sind breit akzeptiert und haben ein gutes Netzwerk. Sie wurden mit Fokus auf die lokale Neonaziszene gegründet, auch wenn sich dieser Fokus geweitet hat. Auch der KKJR (Kreis Kinder- und Jugendring) sowie regionale und überregionale Bündnisse sind wichtige Strukturen gegen rechts. Sie bilden solidarische Netzwerke und schaffen viel Öffentlichkeit sowie politische Infrastrukturen. In Ostbrandenburg stechen vor allem KKJR, Kultus e.V. und das AJP (Alternatives Jugendprojekt Strausberg) hervor. Durch das Erstarken der Zivilgesellschaft ist es für die Neonazis schwieriger geworden, offen aufzutreten, da dies schneller bekannt wird und zu Widerspruch führt. Die zivilgesellschaftlichen Strukturen haben hier mittlerweile eine große Reichweite und eine hohe Glaubhaftigkeit, solange es um die Auseinandersetzung mit Neonazis geht. Arbeit gegen den rassistischen Normalzustand innerhalb der Gesellschaft gelingt dagegen nur vereinzelt.

Ob und wie auch die Zivilgesellschaft Rechte befördert ist unklar; es gibt einzelne Akteur:innen die eher darauf aus sind mit Rechten zu reden und sich nicht deutlich abgrenzen (und dabei nicht kritikfähig sind).

Die Rolle der Politik ist ambivalent, im Zweifelsfall hängt vieles meist von Einzelpersonen ab, in der Kommunalpolitik wird die AfD etwa von Wenigen als Gefahr gesehen. Auf Kreisebene ist deren Politik rassistisch dominiert, zivilgesellschaftliche Interventionen sind dort kaum möglich. Viele der Politiker:innen sind hauptsächlich im Wahlkampf wahrnehmbar, es gibt viele Alteingesessene und eingespielte Dynamiken, die kaum aufzubrechen sind. Viele machen seit Jahrzehnten Kommunalpolitik und haben ihre etablierten Netzwerke. Besonders der Wille zum langfristigen Angehen von Problemen fehlt, Wandel wird kaum beachtet und im Zweifel finden nur etablierte Akteure der Zivilgesellschaft Beachtung durch die Politik. Von manchen werden zivilgesellschaftliche Initiativen auch als Nestbeschmutzer angesehen, die den Ruf des Ortes negativ beeinflussen. Dann wird Zusammenarbeit verhindert und etwa Erinnerungsarbeit an die Opfer rechter Gewalt seit der Wende abgelehnt, so geschehen in Fredersdorf und Neutrebbin.

Selbst die Partei Die Linke ist teilweise nicht an Bündnissen mit zivilgesellschaftlichen Initiativen interessiert, besonders fehlt die Andockung an subkulturelle, autonome Linke. Die SPD ist eher konservativ im Landkreis. Aber es gibt auch Gegenbeispiele, in Petershagen hat die Kommune etwa mehr Geld für aufsuchende Arbeit bereitgestellt, nachdem es vermehrt rechte Vorfälle gab. Von Politiker:innen auf Landesebene kommt meist mehr Engagement, so war etwa das von der Landesebene initiierte Verbot der ANSDAPO („Alternative Nationale Strausberger Dart-, Piercing und Tattoo-Offensive“) 2005 wichtig. Außerdem wurden auf Landesebene in den 1990ern hilfreiche Rahmenbedingungen geschaffen, um den zivilgesellschaftlichen Widerstand gegen rechts zu fördern (http://www.tolerantes.brandenburg.de/koordinierungsstelle/handlungskonzept-der-landesregierung.html). Seit 2013 ist Antirassismus sogar Staatsziel Brandenburgs (https://www.politische-bildung-brandenburg.de/themen/schwerpunkt-alltagsrassismus/antirassismus-als-staatsziel).

Das Aktionsbündnis Brandenburg fördert auf Landesebene das gemeinsame Agieren der Zivilgesellschaft, aber nicht überall gibt es ein gleichmäßiges Engagement gegen rechts; vor allem in ländlichen Regionen gibt es kaum etablierte Strukturen.

Herausforderungen stellen die Anschlussfähigkeit linker Positionen und der Zivilgesellschaft dar. So grenzen sich einige nicht ausreichend gegen Rechts und besonders die AfD ab, es existiert die weit verbreitete Idee, man müsse mit den Rechten reden und dürfe den Intoleranten gegenüber nicht intolerant sein. Außerdem ist eine Herausforderung die mangelnde Verankerung zivilgesellschaftlicher Strukturen innerhalb der eingespielten lokalen Zusammenhänge. Da viele zivilgesellschaftliche Akteure zugezogen sind, müssen Netzwerke mit Alteingesessenen erst mühsam aufgebaut werden. Darüber hinaus gilt Antifa bei vielen als verrufen.“

Wie arbeitet ihr in der Region Ostbrandenburg? Was erachtet ihr als sinnvolle und hilfreiche Handlungsweisen, um die radikale Rechte und ihre Raumnahme einzudämmen/zurückzudrängen – und was hat womöglich nicht funktioniert?

Tom Kurz: „Die Arbeit hier ist vielfältig und bedient unterschiedliche Zielgruppen. So gibt es politische Kultur- und Bildungsarbeit in Horten inkl. deren Verwaltung. Dazu gibt es Beratungsstellen für Opfer rechter Gewalt, die beraten, unterstützen, gedenken, weiterbilden und Monitoring betreiben. Dazu gibt es einige Bündnisse wie KKJR, offenes MOLoder Bad Freienwalde ist bunt. Hier stellt die Zivilgesellschaft viel Expertise bereit und leistet frei nach dem Motto „Antifa heißt Anruf“ viel Beziehungsarbeit.

Handlungsmöglichkeiten sind vor allem die Strukturen und Infrastrukturen der Nazis in den Fokus zu nehmen, besonders finanzielle Einbußen tun ihnen weh. Außerdem tragen wir zu Sensibilisierung und Informationsgewinn bei und schaffen Austausch und Vernetzung zwischen Akteuren. Wir versuchen die soziale Arbeit zu stärken, zu beraten und weiterzubilden. Dabei geht es uns um die Schaffung von Schutzräumen und der Hilfe zur Selbsthilfe.

An Grenzen stoßen wir bei der Sensibilisierung: Menschen stumpfen ab, wenn sie immer das Gleiche hören. Arbeit gegen Rechts darf sich zudem keiner Aufmerksamkeitsökonomie bedienen, vieles muss den Menschen hinterhergetragen werden. Leider ist es bei uns so, dass rassistische Angriffe oft nur wenige Menschen interessieren. Außerdem funktioniert hier vieles fast nur über persönliche Beziehungen.

Stefan Tenner: „Das Aktionsbündnis Brandenburg betreibt Aufklärung durch Recherche, Publikationen, Social Media sowie Kampagnen vor Ort (z.B. „Schöner Leben Ohne Nazis“ oder „Wir lassen uns nicht hetzen“). Aktivitäten für lokales zivilgesellschaftliches Engagement gegen Rechts fördern wir mit einem Initiativenfonds.

5. Welchen Input oder Hilfestellung wünscht du dir von den Geisteswissenschaften? Was können wir tun, um deine Arbeit zu unterstützen?

Tom Kurz: „Uns würde es helfen das Konstrukt Linksextremismus als Feindbild abzubauen und Antifa als regulären Partner zu benennen. Forschung ist wichtig, die Ergebnisse der Forschung müssen übersetzt und für Akteur:innen vor Ort und Menschen zugänglich gemacht werden. Es muss gemeinsam mit der Zivilgesellschaft eine Praxis draus entwickelt werden. Auch Fragestellungen für die Forschung müssten mit Zivilgesellschaft zusammen entwickelt werden. Mein persönlicher Appell lautet: engagiert euch lokal und solidarisiert euch mit Betroffenen rechter Gewalt. Besonders Vernetzung ist immer wichtig.“

Stefan Tenner: „Uns würden außerdem Studien helfen, die praxisnah Probleme aufzeigen und Analyse bieten, die bei Öffentlichkeit und Politik ankommen. Auch Forschung zur Diversität in der Zivilgesellschaft sehen wir als Leerstelle.“


[1] S5-Region ist eine Bezeichnung für die Gebiete entlang der Bahn-Linie S5 östlich von Berlin zwischen Hoppegarten und Strausberg.