Netzwerk Territorialisierungen der radikalen Rechten

Interview mit dem Aktionsbündnis NSU-Komplex auflösen

Tribunal NSU-Komplex auflösen
©Tribunal NSU-Komplex auflösen, Dörthe Boxberg

Im Oktober sprachen wir mit Jonas Lendl vom Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ über städtische Räume und Rassismus, die lokale Situierung des NSU-Terrors sowie aktivistische Antwortversuche. Das bundesweite Aktionsbündnis wurde 2014 von lokalen Initiativen gegründet, die solidarisch mit den Angehörigen und Überlebenden lückenlose Aufklärung einfordern und gedenkpolitisch aktiv sind. Der Zusammenhang brachte antirassistische, antifaschistische, migrantisch situierte und künstlerische Perspektiven zusammen und konzipierte die gleichnamigen Tribunale.

Für das Forschungsnetzwerk war interessant, welche Rolle städtische Räume für den NSU und sein Umfeld spiel(t)en. Während viele Aktivitäten der radikalen Rechten mit ländlichen Räumen verknüpft sind, wie es auch von den geladenen Gästen der letzten beiden Netzwerktreffen dargestellt wurde, traf die eliminatorische Agenda des NSU migrantisierte Bewohner*innen von Großstädten. Während die Tatorte mit Ausnahme des in Rostock verübten Mordes an Mehmet Turgut in Westdeutschland liegen, fand die politische Radikalisierung im thüringischen Jena statt. Auch Chemnitz und Zwickau, wo das Kerntrio unterstützt von anderen Neonazis lebte, nachdem es 1998 wegen Sprengstoffdelikten zur Fahndung ausgeschrieben worden war, sowie die Orte, in denen zwischen 1998 und 2011 Banken überfallen wurden, liegen in Ostdeutschland.

NSU-Tatort Nürnberg

Der erste rassistische Anschlag, der dem „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) zugerechnet wird, wurde am 23. Juni 1999 auf die Kneipe „Sonnenschein“ in Nürnberg verübt – 12 Jahre bevor sich das neonazistische Terror-Netzwerk im November 2011 selbstenttarnte. Aufgrund eines technischen Defekts überlebte der damalige Wirt, der 18-jährige Mehmet O., die Explosion der als Taschenlampe getarnten Rohrbombe. Die folgenden Ermittlungen richteten sich gegen den Schwerverletzten und sein Umfeld und wurden schon nach wenigen Monaten eingestellt. Jahrzehnte blieb die Täterschaft unklar. Auch im Bekennervideo, das nach der Selbstenttarnung 2011 verschickt wurde, wurde die Tat nicht erwähnt. Erst die Aussage eines Angeklagten im NSU-Prozess und Recherchen von Journalist*innen stellten die Verbindung zwischen dem Anschlag auf das „Sonnenschein“ und dem NSU her. Mehmet O. erkannte auf Lichtbildern neben dem öffentlich bekannten Kerntrio Susann E., die Ehefrau des verurteilten NSU-Unterstützers André Eminger.

Am 9. September 2000 wurde der Blumenhändler Enver Şimşek ebenfalls in Nürnberg zum ersten Mordopfer des NSU. Die Witwe Adile Şimşek, die von der Polizei massiv unter Druck gesetzt wurde, wies direkt auf neonazistische Täter hin. 2006 organisierte die Familie zusammen mit anderen Hinterbliebenen die Schweigemärsche, die unter dem Motto „Kein 10. Opfer“ in Kassel und in Dortmund stattfanden.

Am 13. Juni 2001 wurde Abdurrahim Özüdoğru in seiner Änderungsschneiderei in der Nürnberger Südstadt ermordet. Auch hier ahnten die Hinterbliebenen den rassistischen Hintergrund der Tat.

İsmail Yaşar wurde am 9. Juni 2005 in seinem Döner-Imbiss zum dritten Mordopfer des NSU in Nürnberg. Die Tat rief im Stadtteil unmittelbar kollektive Trauer hervor, am Tatort wurden Abschiedsbriefe und Blumen abgelegt. Die Kriminalisierung des Opfers und seiner Familie durch die Strafverfolgungsbehörden und die Medien setzte dem ein Ende. Der 15-jährige Sohn musste Fingerabdrücke und DNA-Proben abgeben, der Imbiss und ein nahegelegener Spielplatz wurden nach Drogen durchsucht. Keine nennenswerte Beachtung erfuhr dagegen, dass ein Neonazi, der sich im Umfeld des NSU-Netzwerks bewegte, eine Sachbeschädigung am Imbiss begangen hatte und deswegen zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Wenige Wochen nach dem Mord startete in unmittelbarer Nähe zum Tatort eine Antifa-Demonstration gegen einen örtlichen Neonazi-Treffpunkt. Das antifaschistische Wissen um neonazistische Strukturen und die Trauer um den „heimlichen Mittelpunkt“ des Stadtteils, wie İsmail Yaşar in der Lokalzeitung zunächst genannt wurde, kulminierten jedoch nicht in der öffentlichen Frage, ob Rassismus das Tatmotiv gewesen sein könnte. In den Büchern Schmerzliche Heimat (Şimşek und Schwarz 2013), Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen (John (Hg.) 2014) und im Begleitband zur Ausstellung Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen(Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung 2021) kann der NSU-Komplex umfassend aus Betroffenenperspektive nachvollzogen werden.

Welche Rolle spiel(t)en gerade städtische Räume für den NSU und sein Umfeld?

Das NSU-Kerntrio wurde in der Stadt sozialisiert. Sie wuchsen im thüringischen Jena auf und radikalisierten sich dort in den frühen 1990er-Jahren über eine neonazistische Jugendkultur, die im Sinne akzeptierender Jugendarbeit in kommunalen Jugendclubs aktiv gefördert wurde (Bruns 2019). Auch während der Mord- und Anschlagsserie hielten sie sich in urbanen Räumen auf. Mit Unterstützung lokaler Neonazi-Netzwerke und Billigung der Inlandsgeheimdienste konnten sie sich in den sächsischen Städten Chemnitz und Zwickau der polizeilichen Zielfahndung ohne gravierende alltägliche Einschränkungen entziehen. Der rassistische Terror konzentrierte sich dagegen auf westdeutsche Großstädte: Nürnberg, Köln, Hamburg, München, Dortmund und Kassel. Einzige Ausnahme ist der Mord an Mehmet Turgut, der am 25. Februar 2004 in Rostock umgebracht wurde. Wie die Opfer und Anschlagsziele konkret ausgewählt wurden, ist bis heute ungeklärt. Es wird von einer Beteiligung lokaler Unterstützer*innen durch Weitergabe von Informationen sowie Mitwirkung am Ausspähen möglicher Ziele ausgegangen. Ansonsten spielten wohl auch Aspekte wie die Verkehrsanbindung eine Rolle, z. B. die Nähe zu Ausfallstraßen, um die Tatorte per Fahrrad und Wohnmobil schnell verlassen zu können. Juliane Karakayalı und Bernd Kasparek (2013) plädieren dafür, den NSU-Terror in Zusammenhang mit den Migrationsdebatten der 2000er-Jahre zu analysieren. Die Taten werden als „eine Art der selbstjustiziellen Migrationspolitik“ interpretiert, als „Ausbürgerung durch Mord“. In diesem Sinne würde es passen, dass der NSU in postmigrantischen Großstädten mordete, wo die „einstmals klare, rassistische Kategorisierung als nichtzugehörig zur deutschen Gesellschaft“ am sichtbarsten verschwommen ist.

Was sind die gesellschaftlichen Strukturen/ Rahmenbedingungen, die den NSU-Komplex vor Ort ermöglichten?

In Bezug auf die Strukturen und Rahmenbedingungen, die rechten Terror in Bayern möglich machen, führte der Fachjournalist Robert Andreasch in einem Workshop beim Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ in Nürnberg eine Trias aus Gewährenlassen von Neonazis, Verharmlosung rechter Gewalt und breiter ideologischer Zustimmung zu Rassismus und Antisemitismus an. Flankiert werde diese von Repression gegen Antifaschist*innen.

Was den NSU-Komplex angeht, ist auch für Bayern von lokalen Helfer*innen auszugehen. Der NSU beschrieb sich selbst als ein „Netzwerk von Kameraden“, konkrete Hinweise für Unterstützungsleistungen sind die Auswahl der Tatorte, die auf lokales Wissen schließen lassen, umfangreiche Ausspähnotizen und eine DVD mit dem Bekennervideo, die von einer bis heute unbekannten Person in den Briefkasten der Nürnberger Nachrichten geworfen wurde. Die regionale Neonaziszene, mit der das Kerntrio nachweislich eng verbandelt war, war durchsetzt mit V-Personen wie dem langjährigen Neonazi-Aktivisten Kai Dalek, welcher möglicherweise sogar als verdeckter Ermittler tätig war. Anschlagspläne wurden in diesen Kreisen offen diskutiert. Dazu kommt der strukturelle Rassismus der Strafverfolgungsbehörden und Medien, der dazu führte, dass Mordopfer und Hinterbliebene in Täter-Opfer-Umkehr der „organisierten Kriminalität“ bezichtigt wurden. Dieser Ermittlungsfokus wird in den Bezeichnungen „Soko Halbmond“ und „BAO Bosporus“ deutlich. Heike Kleffner (2018) berichtet, dass mindestens zwei Beamten der „BAO Bosporus“ in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Mordermittlungen an Schulungen in der umstrittenen Reid-Verhörmethode teilgenommen haben, mit der vor allem in den USA massenhaft falsche Geständnisse erpresst wurden. Yvonne Boulgarides, die Witwe des in München ermordeten Theodoros Boulgarides, begegnete der polizeilichen Unterstellung, in die Tat involviert gewesen zu sein, mit einer Gegenfrage: „Und damit es nicht auffällt, habe ich vorher sechs Türken ermordet?“ (zit. nach Simon 2012) Auch die Medienberichterstattung trug dazu bei, dass der rassistische Hintergrund der Morde und Anschläge verkannt wurde. Vielmehr wurde aktiv an der Dehumanisierung der Mordopfer und der Kriminalisierung migrantischer Communities mitgewirkt. Bekanntestes Beispiel sind die reißerischen Überschriften und Artikel, in denen die Ermordeten zu Imbissgerichten gemacht wurden – erstmals abgedruckt im August 2005 in der Nürnberger Zeitung.

Sasha Marianna Salzmann (2019: 21) macht deutlich, dass Gewaltdynamiken nicht eindimensional als Angriff von Täter*innen auf Opfer verstanden werden sollten, sondern als Triangel. Angewendet auf den NSU-Terror gibt es also nicht nur mordende Neonazis und migrantisierte Opfer respektive Hinterbliebene, sondern noch eine dritte Gruppe, die die Betroffenen nicht schützt und sie auch nach der Tat nicht als „Hauptzeugen des Geschehenen“ anerkennt, wie İbrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992, den Status von Betroffenen fasst. Vielfach wurden Polizei und Medien nach Anschlägen des NSU als Mittäter*innen gesehen – Überlebende des Anschlags auf die Keupstraße nannten die Ermittlungen bspw. eine „zweite Bombe“. Auf den Demonstrationen, die 2006 in Kassel und Dortmund stattfanden, wurden staatliche Instanzen allerdings deutlich in die Verantwortung genommen („Stoppt die Mörder“).

Welche Rolle spielt(e) lokale Politik und Zivilgesellschaft in der Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex? Wo sind zentrale Herausforderungen?

Neben der Forderung nach lückenloser Aufklärung der Taten setzten sich Betroffene und solidarische Initiativen bundesweit für ein kontinuierliches und aktives Gedenken an die Opfer der rassistischen Morde sowie der Bombenanschläge ein. Mit Nora Sternfeld (2016) lassen sich diese Kämpfe als errungene Erinnerungen verstehen, da lokale Politik und Dominanzgesellschaft zunächst nahezu immer mit Abwehr auf Forderungen und Kritik reagierten. Inzwischen sind in fast allen Städten mit Bezug zum NSU-Terror Gedenkorte entstanden oder geplant. Die progressive Zivilgesellschaft fungierte dabei in lokal unterschiedlichem Ausmaß und mit zeitlichen Diskontinuitäten als kritische Stimme, Antriebsmotor wie auch Kooperationspartner*in für kommunale Gedenkaktivitäten.

In Nürnberg, wo 2013 ein Mahnmal ohne örtlichen Bezug zu den Angriffen des NSU errichtet worden war, konzentrierte sich das nichtstaatliche Gedenken über Jahre auf die Tatorte. Nach öffentlicher Kritik wurden zwei Plätze in Tatortnähe nach Mordopfern benannt und mit einer Resolution des Stadtrats die Forderung nach einem zweiten NSU-Untersuchungsausschuss im Bayerischen Landtag unterstützt. Progressive Gedenkpolitik bewegt sich in einem Spannungsverhältnis aus kritischer Intervention, der Adressierung von Forderungen an (lokal-)staatliche Instanzen und der Gefahr von Vereinnahmung. Eine weitere ambivalente Herausforderung ist die zunehmende Historisierung des NSU-Terrors: Während der Kampf um Aufklärung und Konsequenzen mit abnehmendem öffentlichen Interesse schwieriger wird, wächst das Wissen, dass der NSU-Komplex kein singuläres Phänomen ist, sondern Teil einer marginalisierten Kontinuität rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Regional wird dies besonders deutlich: Nur ein Jahr nachdem Nazideutschland militärisch besiegt worden war, wurde der Entnazifizierungsexperte Edward Hartshorne im August 1946 auf der Autobahn Richtung Nürnberg unter bis heute ungeklärten Umständen ermordet. Das Rohrbombenattentat auf das sogenannte Asylsammellager in Zirndorf im Juli 1980 ist der erste bekannte rassistische Anschlag in der Geschichte der BRD (Andreasch 2020). In Erlangen erinnert die Initiative Kritisches Gedenken an den ersten antisemitischen Mord nach 1945, die Hinrichtung von Shlomo Lewin und Frida Poeschke im Dezember 1980. Nur zwei Jahre später wurden in Nürnberg William Schenck, Rufus Surles und Mohamed Ehap beim rassistischen Terroranschlag auf die Diskothek „Twenty Five“ ermordet. In ganz Bayern ringen Aktivist*innen um öffentliche Erinnerung an rechte Anschläge, recherchieren zu Hintergründen und Verdachtsfällen. In München hat a.i.d.a e.V. den Erhalt des Grabes von Corinna Tartarotti gesichert, die am 7. Januar 1984 beim antifeministischen Brandanschlag der „Gruppe Ludwig“ auf den Club „Liverpool“ ermordet wurde. Seit 2019 organisiert die Antisexistische Aktion München jährliche Gedenkkundgebungen. Weil eine Schulfreundin den Aktivist*innen ein Foto zur Verfügung stellte, gibt es seitdem ein Bild der Ermordeten. In Amberg konnten Antifaschist*innen gegen jahrelange Ignoranz die Anbringung einer Gedenktafel an Klaus-Peter Beer durchsetzen, der im September 1995 von zwei Neonazis aus Homophobie ermordet wurde – einer von ihnen hatte Verbindungen in das NSU-Netzwerk. Eine Broschüre gedenkt dem Ermordeten und dokumentiert neonazistische Gewalt und antifaschistisches Erinnern in Amberg (Bündnis gegen das Vergessen 2022). Recherchen von Heike Kleffner (2020) zu einem von der Polizei zurückgehaltenen Bekennerschreiben nach einem Brandanschlag in Kempten 1990, bei dem der fünfjährige Ercan ermordet wurde, führten dazu, dass die Ermittlungen wiederaufgenommen wurden. Was Aktivist*innen, Initiativen und Betroffene leisten beschränkt sich also nicht auf einen kommemorativen Zugang zu den Taten, sondern hat unmittelbare Relevanz für die Gegenwart. Indem strukturelle Ähnlichkeiten zum rechten Terror der 2010er-Jahre zum Thema gemacht werden – Ausblenden von Netzwerken durch Einzeltäter-Narrative, Dethematisierung der Tatmotive durch Pathologisierung der Täter, unkomplizierter Waffenzugang für Neonazis –, werden Problemlagen und politischer Handlungsbedarf besonders deutlich. Die geteilte Erfahrung von Schmerz und institutionellem Versagen ist die Basis für bundesweite Solidarisierungen zwischen Betroffenen rechter, rassistischer, antisemitischer Gewalt – beim Tribunal in Nürnberg, bei Gedenkveranstaltungen, aber z. B. auch in der Arbeit der Initiative „München erinnern“ (2022), die zum rechten Anschlag auf das Olympia-Einkaufszentrum in München im Juli 2016 arbeitet, bei dem neun Menschen ermordet wurden.

Was kommunale Auseinandersetzungen mit dem NSU-Komplex angeht, zeichnet sich die Tendenz ab, dass die vormalige Hypothek zunehmend als Profilierungsmöglichkeit begriffen wird. Mehrere Städte sind daran interessiert, das im Koalitionsvertrag auf Bundesebene genannte Archiv zu Rechtsterrorismus zu realisieren. In Sachsen wurde bereits eine Machbarkeitsstudie zur Entwicklung eines NSU-Dokumentationszentrums erstellt. In Köln standen der Umsetzung eines partizipativ konzipierten Mahnmals in Erinnerung an die Anschläge auf die Keupstraße und in der Probsteigasse lange Eigentumsfragen im Weg. Nun konnte der von den Überlebenden geforderte Standort am Eingang der Keupstraße durchgesetzt werden. Allerdings bleibt abzuwarten, ob die kommunale Verpflichtung auf die stadtpolitisch umstrittene Inwertsetzung des Areals durch private Investor*innen zu weiteren Verzögerungen oder Problemstellungen führt.

Wie lassen sich lokale und bundesweite Organisierung vernetzen? Was sind sinnvolle und hilfreiche Handlungsweisen, um rechtem Terror und seinen Ermöglichungsstrukturen entgegenzutreten?

Die Intensität der Vernetzung variierte beim Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ über die Jahre. Nachdem lokal verankerte Initiativen mit Fokus auf Aktionen im Kontext des NSU-Prozesses und in der Vorbereitung des ersten Tribunals 2017 in Köln als bundesweite Struktur zusammengefunden hatten, waren die drei folgenden Tribunale in Mannheim (2018), Chemnitz/Zwickau (2019) und Nürnberg (2022) stärker lokal bzw. regional getragen. Tribunale haben sich als überregionale Bühnen für Betroffene, Orte der Vernetzung sowie der Anklage von Rassismus bewährt (Sauer 2022), die eine Kraft und Aufmerksamkeit erzeugen können, die für Kämpfe vor Ort schwer zu erreichen sind. Während an Jahrestagen rechten Terrors oft vielschichtige politische und mediale Interessen miteinander konkurrieren, konnten Tribunale Räume eröffnen, die ganz von solidarischer Parteilichkeit mit Betroffenen getragen waren.

Ein Spannungsverhältnis war und ist die Bezugnahme auf staatliches Agieren. Einerseits wird sich mit Forderungen von Betroffenen nach politischer Aufklärung und juristischen Konsequenzen solidarisiert sowie mit Wissen gearbeitet, das engagierte Parlamentarier*innen in Untersuchungsausschüssen erstritten haben oder Initiativen wie NSU-Watch mit der Protokollierung von Gerichtsprozessen dokumentieren. Andererseits finden sich im NSU-Komplex als „größte[r] zusammenhängende[r] Dokumentation von institutionellem, strukturellem, wie eliminatorischem Rassismus der deutschen Gesellschaft“ (Güleç und Hielscher 2015: 145) wie auch der in aktiven Verhinderung der vollständigen Auflösung des Netzwerkes genügend Argumente für eine konsequent staatskritische Haltung. In diesem Sinne wurde sich politisch immer wieder gegen reformistische Appelle und für Gegenöffentlichkeit und aktivistische Interventionen entschieden. In eigenen Anklageschriften wurden Strukturen und Personen angeklagt, die den NSU-Komplex ermöglicht, getragen und erhalten haben (Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ (Hg.) 2021), sowie mit Interventionen deren Verantwortung deutlich gemacht. Beispielsweise wurde im August 2017 eine Unterbrechung des NSU-Prozesses erzwungen, indem während der Verlesung des Abschlussplädoyers der für das Trio-Narrativ verantwortlichen Bundesanwaltschaft auf Mittäter*innen aufmerksam gemacht wurde.

Das Tribunal in Nürnberg versuchte von den Erfahrungen und Schwerpunkten der vorangegangenen Tribunale auszugehen – in Köln war dies vor allem die Perspektive der Migration gewesen, in Mannheim die Kämpfe der Bürger*innenrechtsbewegung der Sinti*zze und Rom*nja und in Chemnitz/Zwickau der Widerstand der ostdeutschen Migrationsgesellschaft gegen rechte Angriffe. Die Gesellschaft der Vielen wurde als solidarische Konvergenz der Kämpfe verstanden: Neben der Auflösung des NSU-Komplex, der Erinnerung an rechten Terror vor dem NSU und der Auseinandersetzung mit rassistischen, antimuslimischen, antiziganistischen und antisemitischen Anschläge nach dem NSU standen weitere postnationalsozialistische, (post-)migrantische, Schwarze, taube und feministische Kämpfe. Ein dezentraler Auftakt an drei Veranstaltungsorten, Critical Walks, symbolische Umbenennungen und ein öffentlicher Abschluss auf den Straßen und Plätzen von Nürnberg standen für die Bereitschaft, Empathie und Solidarität nicht nur zu lernen, sondern diese auch zu verbreiten und zu verteidigen.

Welchen Input oder Hilfestellung braucht es von den Gesellschaftswissenschaften?

Die Auseinandersetzung mit dem NSU-Komplex wurde vor allem durch Betroffene, Aktivist*innen und Fachjournalist*innen vorangetrieben, Juliane Karakayalı, Doris Liebscher, Carl Melchers und Çağrı Kahveci (2017: 20) sprechen von einem „Schweigen der Wissenschaft“. Dies betrifft die Analyse der Bedingungen, die den NSU möglich gemacht haben, die wissenschaftliche Begleitung der Kämpfe um Aufklärung und würdige Erinnerung wie auch das Fehlen von Arbeiten, die das staatliche Handeln nach der Selbstenttarnung fokussieren. So wurden der NSU-Prozess und die Untersuchungsausschüsse auf Bundes- und Länderebene als Objekte für staatskritische Forschung weitgehend übersehen (Pichl 2022). Auffällig ist auch, dass die diesebzügliche Forschung vor allem an Fachhochschulen geleistet wurde und kaum an die Universitäten durchgedrungen ist. Wünschenswert wäre, dass die Gesellschaftswissenschaften die Ermöglichungsbedingungen rechten Terrors fokussieren, Aufmerksamkeit generieren und sich aktiv in politische Auseinandersetzungen einbringen. Aktivistisches Wissen, das z. T. unter prekären Bedingungen produziert wird, kann Forschung und Lehre bereichern, sollte aber entsprechend anerkannt und honoriert werden. Da dies in der Praxis mit bürokratischen Hürden verbunden ist, müssten die Zugänge vereinfacht werden.

Diskussion

Drei besonders relevante Punkte aus der an den Input anschließenden Diskussion sollen festgehalten werden. Erstens wurde der Blick auf die überwiegend westdeutschen Tatorte des NSU erweitert. Fraglos werden bestimmte Städte, Stadtviertel und Straßenzüge, die oft auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik liegen, von rechten Akteur*innen rassistisch gelesen und dämonisiert. Allerdings sind Themen wie „Brennpunktviertel“, „Clankriminalität“ oder auch die Migrantisierung von Jugendgewalt in der politischen und medialen Debatte wie auch in der Praxis der Strafverfolgungsbehörden derart normalisiert, dass de facto von einer rechten Diskurshoheit auszugehen ist. Der Zusammenhang zwischen der öffentlichen Kriminalisierung von Shishabars und dem Anschlag von Hanau wurde beispielsweise bereits deutlich herausgearbeitet (Sarbo 2020).

In Bezug auf das strukturelle Polizeiproblem, das im NSU-Komplex deutlich wurde, lässt sich angesichts von NSU 2.0 und der offensichtlich bundesweit in Chatgruppen kultivierten Menschenfeindlichkeit kaum von einer positiven Entwicklung ausgehen. Auch was die Aufklärung des Polizeiversagens im NSU-Komplex betrifft, vermittelt beispielsweise der zweite bayerische NSU-Untersuchungsausschuss keinen guten Eindruck. Selbst zaghafte Versuche, Zeug*innen aus den Ermittlungsbehörden kritisch zu befragen, werden von Ausschussmitgliedern der Regierungskoalition, die selbst überproportional oft mit dem Polizeiapparat verbunden sind, als Blasphemie gegeißelt. Die Thematisierung von rassistischer Polizeigewalt und Todesfällen von migrantisierten und Schwarzen Menschen in Gewahrsam war von Anfang an Teil der Tribunale, da die Mitwirkung der Initiative „In Gedenken an Oury Jalloh“ über den Oury-Jalloh-Komplex für ähnliche Fälle sensibilisierte.

Mit Blick auf die Hinterbliebenen und Überlebenden des NSU-Terrors ergibt sich ein gemischtes Bild. Während sich manche nach dem ernüchternden Urteil des Oberlandesgerichts München weitgehend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen haben, kämpfen andere unermüdlich gegen den viel problematisierten Schlussstrich an. Zum Teil wagen jüngere Angehörige den Schritt in die Öffentlichkeit, vor allem aber nehmen Austausch und Vernetzung von Betroffenen verschiedener Tatkomplexe zu. Was die Formen der Erinnerung an die Ermordeten betrifft, wurden mit Schulvorträgen und dem Mehmet-Kubaşık-Kinderfest in Dortmund neue Wege gegangen, die den Hinterbliebenen selbst wichtig waren.

Literatur

Aktionsbündnis „NSU-Komplex auflösen“ (Hg.) 2021: Tribunale. „NSU-Komplex auflösen“. Berlin

Andreasch, Robert (2020): „Die Zeichen sind gesetzt. Der Kampf hat begonnen.“ der rechte rand, Ausgabe 184

Bruns, Lucia (2019): Der NSU-Komplex und die akzeptierende Jugendarbeit. Perspektiven aus der Sozialen Arbeit. http://oops.uni-oldenburg.de/4676/

Bündnis gegen das Vergessen (2022): In Gedenken an Klaus-Peter Beer – Neonazistische Gewalt und antifaschistisches Erinnern in Amberg. https://bayern.vvn-bda.de/2022/09/05/in-gedenken-an-klaus-peter-beer-neonazistische-gewalt-und-antifaschistisches-erinnern-in-amberg/

Güleç, Ayşe und Lee Hielscher (2015): Zwischen Hegemonialität und Multiplität des Erinnerns. Suchbewegungen einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem NSU. In: Friedrich, Sebastian, Regina Wamper und Jens Zimmermann (Hg.): Der NSU in bester Gesellschaft. Zwischen Neonazismus, Rassismus und Staat. Münster: 144-158

John, Barbara (Hg.) (2014): Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen. Was der NSU-Terror für die Opfer und Angehörigen bedeutet. Bonn

Karakayalı, Juliane und Bernd Kasparek (2013): Mord im rassistischen Kontinuum. https://www.nsu-watch.info/2013/11/mord-im-rassistischen-kontinuum/

Karakayalı, Juliane, Doris Liebscher, Carl Melchers, Çağrı Kahveci (2017): Der NSU-Komplex und die Wissenschaft. In: dies. (Hg.):  Den NSU-Komplex analysieren. Aktuelle Perspektiven aus der Wissenschaft. Bielefeld: 15-36

Kleffner, Heike (2018): Spuren der Reid-Methode: Erzwungene Geständnisse und institutioneller Rassismus. https://www.cilip.de/2018/04/27/spuren-der-reid-methode-erzwungene-gestaendnisse-und-institutioneller-rassismus/

Kleffner, Heike (2020): Sie dachte noch, er wäre gerettet.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-10/rechte-gewalt-deutschland-rechtsextremismus-anschlag-behoerden

Initiative „München erinnern“ (2022): https://muenchen-erinnern.de

Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, Bildung und Beratung (2021): Die Opfer des NSU und die Aufarbeitung der Verbrechen. Begleitband zur Wanderausstellung. 5. Aufl. Nürnberg.

Pichl, Maximilian (2022): Untersuchung im Rechtsstaat. Eine deskriptiv-kritische Beobachtung der parlamentarischen Untersuchungsausschüsse zur NSU-Mordserie. Weilerswist.

Salzmann, Sasha Marianna (2019): Sichtbar. In: Aydemir, Fatma und Hengameh Yaghoobifarah (Hg.): Eure Heimat ist unser Albtraum. Berlin: 13-26

Sauer, Madlyn (2022): Wir klagen an! NSU-Tribunale als Praxis zwischen Kunst, Recht und Politik. Münster

Sarbo, Bafta (2020): Wie polizeiliches Racial Profiling Rassismus anheizt. https://www.akweb.de/ausgaben/658/wie-polizeiliches-racial-profiling-rassismus-anheizt/

Simon, Jana (2012): Das zweite Trauma. https://www.zeit.de/2012/48/Opfer-NSU-Hinterbliebene?user_suggested=true&page=5

Şimşek, Semiya und Peter Schwarz (2013): Schmerzliche Heimat. Deutschland und der Mord an meinem Vater. Berlin.

Sternfeld, Nora (2016): Errungene Erinnerungen. Gedenkstätten als Kontaktzonen. In: Allmeier, Daniela, Inge Manka, Peter Mörtenböck und Rudolf Scheuvens (Hg.): Erinnerungsorte in Bewegung. Zur Neugestaltung des Gedenkens an Orten nationalsozialistischer Verbrechen. Bielefeld: 77-96