Netzwerk Territorialisierungen der radikalen Rechten

Interview mit Kulturbüro Sachsen

Im Juni 2020 sprachen wir mit dem Kulturbüro Sachsen über Territorialisierungen der radikalen Rechten in Mittelsachsen. Seine Arbeit dokumentiert das Kulturbüro unter anderem in den jährlichen Berichten Sachsen rechts Unten.

Sind der radikalen Rechten in den letzten rund fünf Jahren in Mittelsachsen Raumnahmen gelungen und wenn ja, wo und wie?

In Mittelsachsen ist es in den letzten Jahren verschiedenen rechten Akteur*innen gelungen, sich erfolgreich Räume anzueignen. Für eine genauere Situationsbeschreibung greifen wir zwei Beispiele heraus.

Völkische Siedler*innen bei Leisnig
„Im Jahr 2016 wurde bekannt, dass sich der Adoria Verlag in Naunhof bei Leisnig angesiedelt hatte. Der rechte Verleger Dankwart S. und seine Frau [waren] früher bei der „Einheit Nordland“ der Heimattreuen Deutschen Jugend (HDJ) aktiv. Die Bandbreite der inzwischen verschiedenen unter seinem Namen laufenden Verlage reicht von faschistischer Theoriebildung bis hin zur recht einseitigen Betrachtung des Zweiten Weltkrieges. Seine Frau Bente S. war früher Mitherausgeberin der Zeitschrift „Umwelt & Aktiv“ – einem völkischen Blatt, das sich bis Ende 2019 gezielt mit ökologischen Fragen auseinandersetzte“. (Kulturbüro Sachsen 2021: 26-29) Menschen aus der Region bemerkten, dass nach und nach weitere Akteur*innen, die der extremen Rechten angehören, mit ihren Kindern in die Region gezogen sind. „Ins Auge gefallen war der seltsam anmutende Kleidungsstil: altertümliche lange Röcke und Kleidungsstücke aus Wolle. Außerdem waren es Erzählungen der Kinder der völkischen [Siedler*innen], die Außenstehende stutzig machten. So wurde deutlich, dass die Väter an rechtsextremen Demonstrationen und Aktionen teilnahmen, obwohl die Kinder dazu angehaltem waren, möglichst wenig preiszugeben.“ (ebd.) Nach der Presseberichterstattung über die rassistisch motivierten Demonstrationen und Ausschreitungen in Chemnitz Ende August und Anfang September 2018 erkannten einzelne Bewohner*innen einen der neuen Nachbarn. Bei einer genauen Analyse war festzustellen, dass bundesweit bekannte Personen aus dem völkischen Spektrum in die Region von Leisnig gezogen waren. Diese Personen stammen zum Teil aus dem Umfeld der mittlerweile verbotenen HDJ oder waren in rechten Parteien, wie beispielsweise in der NPD oder beim „III. Weg“ aktiv.

„Die kleinen Dörfer, in den die [genannten Akteur*innen nun mit ihren] Familien […] leben, lagen alle in einem Radius von wenigen Kilometer voneinander entfernt. […] Spätestens seit Sommer 2018 war also klar, dass sich faschistische und völkische Familien rund um Leisnig systematisch ansiedeln. Seit dem Frühjahr wird eine Ansiedelung auch ganz gezielt propagiert. Die Initiative „Zusammenrücken in Mitteldeutschland“ nimmt [dabei] eine Scharnierfunktion zwischen verschiedenen rechten Gruppen ein und steht somit für die Ausbildung einer faschistischen Bewegung im ländlichen Raum. Die Initiative bewirbt explizit eine Ansiedlung von nationalen Familien und hilft mit Einschätzungen zur Region, zum Immobilien- und Arbeitsmarkt.“ (ebd.) Ziel ist es, nach ihrem völkischen und rassistischen Weltbild ein rechtes Siedlungsprojekt zu schaffen, eine homogene Volksgemeinschaft zu etablieren und ihre völkisch-nationalistischen Anschauungen zu praktizieren. Beobachtungen der vergangenen Wochen haben gezeigt, dass die völkischen Siedler*innen bereits mit Akteur*innen der lokalen Neonazi-Szene in Kontakt stehen.

JN/NPD Mittelsachsen
Auch eine Gruppe rechter Akteur*innen, die sich um den NPD-Kader Stefan Trautmann sammelt, versucht unterschiedliche Raumnahmestrategien in Mittelsachsen umzusetzen. Stefan Trautmann war bereits seit 2005 fester Bestandteil der Neonazikameradschaft „Nationale Sozialisten Döbeln“. Nach dem Verbot durch das Innenministerium im Jahr 2013 war er in der Jugendorganisation der NPD aktiv. Mit Unterstützung durch die Landesebene der NPD und JN entstand nach dem Verbot einer der sachsenweit aktivsten JN/NPD Verbände in Mittelsachsen. Die Gruppe ist über Landes-, Gemeinde- und Kreisgrenzen gut vernetzt und organisierte in den Jahren 2012/2013 und 2014 überregional bedeutsame Demonstrationen in Döbeln. Von 2015 bis 2019 war im Döbelner Stadtrat für die NPD aktiv. In den letzten Jahren wurde deutlich, dass die Akteur*innen der NPD/JN im Landkreis Mittelsachsen eine Region gefunden haben, in der sie stetig neue Kampagnen und Strategien erproben und versuchen diese zu verankern. U.a. wird versucht, sich öffentliche und private Räume anzueignen.

Seit Ende 2017 organisieren einige Neonazis aus dem Umfeld der NPD unter dem Slogan „Jugend packt an“ vermeintlich soziale Aktionen im öffentlichen Raum. Die Aktivitäten der Kampagne umfassen Aufräum- und Reinigungsaktionen, Spenden an Menschen und Tierheime sowie Kinderfeste. Die Aktionen werden öffentlichkeitswirksam in den Sozialen Medien nachbereitet, um sich als sozial engagierter Wohltäter*innen darzustellen. Die Aktionen gelten ausschließlich für „hilfsbedürftige Deutsche“ oder „junge deutsche Familien“ uns sollen ein Versagen der staatlichen Unterstützungsstrukturen suggerieren. Hinzu kommt die Kampagne, „Schafft Schutzzonen“, welche von einem ähnlichen Personenkreis organisiert wird. Hier haben die Neonazis eine Art Bürgerwehr gegründet und laufen in der Region „Streife“ oder führen „Schulwegwachen“ durch. In der Argumentation geben sie an, dass es zu einer „massiven Zunahme an Gewalt“ in Deutschland gekommen sei und Bürger*innen der „importierten Kriminalität“ oft schutzlos ausgeliefert seien. Durch die sogenannten Schutzzonen möchten sie „einen Ort schaffen, an dem Deutsche Schutz finden“ können. Das tatsächliche Ziel ist dabei jedoch die Schaffung von Angsträumen für People of Colour, Schwarze Menschen und Andersdenkende. Mittlerweile bespielen die Aktivist*innen aus dem Umfeld der NPD in Döbeln nicht nur den öffentlichen Raum. Seit September 2020 stehen ihnen auch Räumlichkeiten in der Dresdener Straße in Döbeln zur Verfügung. Nach eigenen Angaben haben sie in diesen Räumlichkeiten eine Tauschbörse eingerichtet und geben u.a. Schulmaterial an Kinder heraus, organisieren Freizeitangebote und beraten bei rechtlichen Problemen. Hier ist ein neuer Rückzugsraum entstanden, der Lagerkapazitäten schafft und als fester Anlaufpunkt fungiert. Dies ermöglicht ein neuen Potential an Handlungsfähigkeit. Die Erfahrungen der letzten Jahre haben gezeigt, dass durch die Nutzung von Rückzugsräumen die Gefahr besteht, dass Strukturen gefestigt und gestärkt werden. Hier können im geschützten Rahmen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit Netzwerktreffen und Schulungen stattfinden sowie rechte Aktivitäten geplant und Propaganda betrieben werden. Durch die Nutzung eines Ladenlokals werden niedrigschwellige Angebote für den (Erst-)Kontakt mit der Neonazi-Szene geschaffen.

Für beide Gruppen lässt sich durch die Raumnahmen ein gestiegenes Selbstbewusstsein feststellen. Nicht zuletzt die Proteste rund um die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona- Pandemie wurden sowohl von den Akteur*innen der NPD als auch den völkischen Siedler*innen genutzt und instrumentalisiert, um in den öffentlichen Raum vorzudringen und den Diskurs zu besetzten. In Leisnig und Döbeln wurden dafür jeweils der Marktplatz genutzt. Bei den angemeldeten Kundgebungen wurde auch die bereits erfolgte Vernetzung zwischen den Akteur*innen der extremen Rechten deutlich.

Was sind aus Ihrer Sicht wichtige gesellschaftliche Strukturen/Rahmenbedingungen, die das Agieren der radikalen Rechten vor Ort befördern?

Hierbei spielen mehrere Faktoren eine Rolle. Neonazis ziehen in Regionen, aus denen andere wegziehen. Hinzu kommt, dass es viel Leerstand gibt und kostengünstiger Wohnraum sowie Immobilien zur Verfügung stehen. Oftmals sind es strukturschwache Regionen und eine überalterte Gesellschaft, die die Region prägen. Deswegen wird es anfänglich positiv bewertet, wenn sich gerade junge Familien dafür entscheiden, in die Region zu ziehen. Es gibt Leerstellen in Vereinen, Initiativen und Institutionen, in denen Neonazis schnell Fuß fassen können. Hinzu kommt ein schwach ausgeprägtes zivilgesellschaftliches Engagement und eine Bürger*innenschaft, die zum Teil wenig bezüglich Neonazismus, Rassismus etc. sensibilisiert ist. So ist es möglich, ungestört Netzwerke und Strukturen aufzubauen, da in der Region kaum Widerstand zu erwarten ist. Mitarbeiter*innen der kommunalen Verwaltung sind ebenfalls kaum sensibilisiert. Es gibt eine lange zurückreichende und erfolgreiche Geschichte der extremen Rechten in dieser Region, auf die aufgebaut werden kann. Kontakte und Strukturen sind bereits vorhanden und regional fest verankert. Hinzu kommt das gesellschaftliche Klima in der Region. Es gibt einen stabilen Resonanzraum und eine Vielzahl an Bürger*innen, welche die rassistischen und nationalistischen Positionen zu einem großen Teil mittragen.

Welche Rolle spielt im Befördern sowie Eindämmen der Präsenz der radikalen Rechten die lokale Politik und Zivilgesellschaft? Wo sehen Sie die zentralen Herausforderungen?

Für die Eindämmung oder Verhinderung von Raumnahmen durch die extreme Rechte braucht es Aufklärung und Sensibilität. Sowohl im Bereich der Politik als auch bei Verwaltung und innerhalb der Zivilgesellschaft muss ein Problembewusstsein entwickelt werden. Bisher gab es jedoch eher ein Stillschweigen auf allen Ebenen. Und damit sind viele Akteur*innen der Strategie der extremen Rechten entgegengekommen, möglichst wenig Aufmerksamkeit zu generieren, um ungestört ein Netzwerk aufzubauen, in dem agiert werden kann. Die Angst, das Stigma eines rechtsextremen Ortes zu bekommen, ist hierbei eine Motivation für das Schweigen seitens vieler kommunaler Entscheidungsträger*innen. Problematisch dabei ist, dass die Akteur*innen der extremen Rechten so in Gemeinwesenstrukturen, Institutionen und im Wirtschaftsbereich ankommen können und so nach und nach Diskurse mitgestalten und eine kulturelle Hegemonie erlangen. Es entsteht eine Normalisierung der entsprechenden Personen wie auch ihrer Positionen. Hier muss ein kritisches Bewusstsein erarbeitet werden, die Strategien benannt und klar Haltung bezogen werden, um die extreme Rechte zurückzudrängen. Gerade zu Beginn braucht es Mut und Engagement der Bürger*innenschaft sowie ein klares Signal. Eine öffentliche und offensive Auseinandersetzung mit Raumnahmestrategien und der Ideologie der extremen Rechten ist hierbei notwendig. Außerdem müssen zivilgesellschaftliche-, verwalterische und polizeiliche Mittel bekannt sein und bemüht werden. Eine große Herausforderung besteht durch die in Sachsen fest verankerte und verinnerlichte sogenannte „Extremismustheorie“. Diese geht davon aus, dass demokratie- und menschenfeindliche Einstellungen nur an den „politischen Rändern“ existieren. Es wird eine politische Mitte imaginiert, die man sich gleichzeitig als gesellschaftliche Mitte vorstellt. Diese wird damit von Ungleichwertigkeitsvorstellungen und demokratiefeindlichen Einstellungen freigesprochen. Dies erschwert eine kritische Auseinandersetzung mit den Ideologien der Ungleichwertigkeit und führt nicht selten zu einer Abwehrhaltung. Ein weiterer hemmender Faktor ist dabei, dass das Engagement gegen Neonazismus oftmals als links oder linksextrem gelabelt wird, was abschreckend für weite Teile der sächsischen Gesellschaft wirkt.

Wie arbeiten Sie in der Region? Was erachten Sie als sinnvolle und hilfreiche Handlungsweisen, um die radikale Rechte und ihre Raumnahme einzudämmen/ zurückzudrängen – und was hat womöglich nicht funktioniert?

Das Mobile Beratungsteam des Kulturbüro Sachsen e.V. betrachtet die Entwicklung der regionalen Situation und die Raumnahmestrategien der extremen Rechten sehr genau. Dazu gehört Recherche, Monitoring und eine Analyse der Situation. Ziel ist es, die Öffentlichkeit zu informieren und aufzuklären. Außerdem werden Arbeitsgruppen, Initiativen und Kommunen beraten und begleitet, die sich mit der Raumnahme und den Akteur*innen der extremen Rechten auseinandersetzen möchten oder müssen. Gemeinsam werden Handlungsstrategien erarbeitet.

Zudem werden menschenrechtsorientierte Akteur*innen gestärkt, unterstützt und qualifiziert. Auch werden Ansprechpartner*innen vermittelt, um beispielsweise spezifische pädagogische Konzepte in Kindertagesstätten, Schulen und bei Trägern der Jugendhilfe zu entwickeln. Menschen werden begleitet, gemeinsam ein spezifisches Bild der Situation aus den unterschiedlichsten Perspektiven zu entwickeln. Daraus können später konkrete Handlungsmöglichkeiten und Aktionen auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen. Der Einbezug von Polizei und Verwaltung ist dabei hilfreich, da hier auch der extremen Rechten mit ordnungspolitischen und polizeilichen Maßnahmen begegnet werden kann.

Ein Patentrezept für einen erfolgreichen Umgang gibt es nicht. Es kann aber festgestellt werden, dass Ignorieren und Verschweigen den Akteur*innen der extremen Rechten hilft und die Grundlage dafür darstellt, sich ungestört im Gemeinwesen zu etablieren, so Diskurshoheit zu gewinnen und die Demokratie bekämpfen. Eine erfolgreiche Strategie muss individuell mit den Akteur*innen vor Ort entwickelt werden. Dafür ist es notwendig die jeweilige Ausgangslage genau zu betrachten, die spezifische Situation zu analysieren, um gemeinsam den Prozess zu entwickeln und so erfolgreich der extremen Rechten entgegentreten zu können. Hierbei spielt auch das persönliche Sicherheitsbedürfnis sowie die jeweiligen Perspektiven, Ressourcen und Stärken der Akteur*innen eine entscheidende Rolle.

Welchen Input oder Hilfestellung wünschen Sie sich von den Gesellschaftswissenschaften? Was können wir tun, um Ihre Arbeit zu unterstützen?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Häufig sind Problembeschreibung, adäquate Analyse und entsprechendes Wissen innerhalb der demokratischen Zivilgesellschaft durchaus vorhanden. Das Problem ist, dass sich progressive Akteur*innen hegemonialen Diskursformationen gegenübersehen, die von einem großen Teil der Gesellschaft geteilt werden und an denen rechte Erzählungen und Strategien andocken. Das erschwert der Mehrheitsgesellschaft, ein umfassendes Verständnis von Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus, (Hetero-)Sexismus, etc. zu entwickeln. Daneben erschwert es der Zivilgesellschaft mit ihrer Problembeschreibung und Lösungsansätzen, Gehör zu finden.

Darüber hinaus bestehen jedoch auch Wissenslücken besonders in Bezug auf Betroffenheitsperspektiven, die auch ein strukturelles Problem innerhalb der Wissenschaft sichtbar machen. Hier ist wichtig, sowohl in der Zusammensetzung der Forschungsteams als auch im Forschungsdesign und der Frage, wessen Perspektiven möglicherweise fehlen, achtsam zu sein. Werden auch migrantische Selbstorganisationen angefragt für Interviews? Kommen Perspektiven von Frauen*, queeren Menschen und People of Colour vor?

Wichtig wäre im nächsten Schritt, dass sich Wissenschaft weiterhin darum bemüht, bestehende und neue Erkenntnisse in weite Teile der Gesellschaft, Verwaltungen, Sicherheitsbehörden und zu Entscheidungsträger*innen zu vermitteln. Gegenüber der Zivilgesellschaft könnte es lohnen, sich mit den Ergebnissen der Forschung in einen reflexiven Prozess zu begeben und gemeinsam mit Akteur*innen vor Ort Möglichkeiten der Operationalisierung zu entwickeln.

Literatur
Kulturbüro Sachsen e.V. (2021): Sachsen rechts unten 2021.